DAS GLÜCKSGEFÜHL
Das erste Mal Eltern zu werden ist unbeschreiblich. Zum zweiten Mal ein Kind zu erwarten bringt neue Freude mit sich, vor allem nach einer unkomplizierten und sorgenfreien Schwangerschaft.
Und so wurde am 28.12.2018 unser Schatz Emily geboren.
Die Vorfreude darauf, unsere Emily zusammen mit ihrem grösseren Bruder Ethan aufwachsen zu sehen, gab uns ein wahres Glücksgefühl. Mitzuerleben, wie sie zusammen Spass haben, miteinander spielen und sich geschwisterlich beistehen werden, hatte unsere Herzen erwärmt. Doch dann …
DIE ZWEIFEL
Nach den ersten Monaten stellten wir fest, dass Emily sich wenig bewegte, aber man sagte uns, dass es sich nur um eine geringfügige Entwicklungsverzögerung handeln würde.
Unsere Sorgen nahmen zu, als wir feststellten, dass unsere Tochter immer schrie, wenn wir sie auf den Bauch legten und dass sie weder ihren Kopf heben, noch sich drehen konnte.
Die Zunge ragte fast immer ein bisschen aus dem Mund, sie hatte wenig Energie, wurde leicht müde, konnte die Arme nicht heben um nach Gegenständen zu greifen und rollte sich nicht auf den Rücken. Sie konnte auch nie krabbeln … auch dazu sagte man uns, dass es sich nur um eine muskuläre Hypotonie handeln würde.
Als Emily neun Monate alt war, beschlossen wir, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und sie einer neurologischen Untersuchung zu unterziehen. Alle unsere Befürchtungen bewahrheiteten sich. Wir wussten nun; unsere Tochter hat ein Problem – aber welches?
DIE ODYSSEE
Wir begannen mit einem Gentest, der eine 47%-ige Wahrscheinlichkeit einer Mitochondriopathie ergab. Einfach ausgedrückt, das Mitochondrium ist der „Motor“ unserer Zellen. Wenn der Motor versagt, steht nur wenig Energie zur Verfügung.
Dafür gibt es keine Genesung, nur eine symptomatische Therapie mit Vitaminen (insbesondere B2 oder Riboflavin), die unangenehm schmecken und die unser kleines Mädchen nicht gerne einnahm.
Die Monate vergingen und Emily‘s motorischer Zustand verschlechterte sich. Sie wurde leicht krank und litt vor allem an Atemwegsinfektionen, die sich durch verschiedene Symptome äusserten. Sie kann nicht husten, weil ihr die Kraft dazu fehlt - und dann wollte sie plötzlich nicht mehr essen.
Von diesem Moment an begann der erste von vielen Aufenthalten im Krankenhaus, mit Einsetzen einer nasogastralen Sonde, um sowohl eine angemessene Flüssigkeitszufuhr als auch eine ausreichende Ernährung zu ermöglichen.
DIE UNGEWISSENHEIT
Beim Lesen der Symptome einer Mitochondriopathie stellten wir jedoch fest, dass es Unstimmigkeiten gab mit den Symptomen die wir bei Emily sahen: In mancher Hinsicht waren es andere Anzeichen, sogar schlimmere als dort beschrieben.
An diesem Punkt rieten unsere Ärzte, uns an das pädiatrische Neurozentrum Besta in Mailand Italien zu wenden, um eine Reihe von diagnostischen Tests durchzuführen wie Magnetresonanztomographie, Elektroenzephalogramm, Muskelbiopsie, usw.
Nach einem ersten Besuch stellte sich uns jedoch ein weiteres Hindernis in den Weg, die Covid-19-Pandemie. Dies führte dazu, dass die Mailänder Besta Klinik keine ausländischen Patienten mehr aufnahm. Während all dieser Monate, wenn unsere Tochter von keinen der häufigen Infektionen heimgesucht wurde, unterzog sie sich regelmässig an Physiotherapie, auch im Wasser durchgeführt, um das Fortschreiten der Muskelkontraktionen aufgrund der Verschlimmerung der Krankheit zu verlangsamen, auch wenn wir damals noch nicht genau wussten, um welche es sich tatsächlich handelte. Zu vermerken ist, dass unsere Tochter glücklicherweise keine kognitiven Defizite hat.
DIE NIEDERGESCHLAGENHEIT
Entmutigt, und fast zwei Jahre nach der ersten neurologischen Untersuchung, informierten wir unseren Facharzt, dass wir ein zweites Gutachten wünschten. Er bezweifelte, dass es in der Schweiz Ärzte gäbe, die solch eine seltene Krankheit, wie diejenige von Emily erkennen würden, und wir sollten doch abwarten, bis sich die Covid Situation entschärft hätte, um uns dann erneut an die Besta Klinik in Mailand zu wenden.
Aber wir hatten keine Geduld mehr, um noch länger tatenlos zu warten.
Zu dieser Zeit arbeitete ich als Allgemeinmediziner im Neurozentrum in Lugano und bat meinen Chefarzt, Dr. Städler, um Hilfe. Er vermittelte mir den Kontakt zu seinem ehemaligen Kollegen, Dr. Datta, Neuroepileptologe am Kinderspital Basel UKBB.
Dies war der erste Glücksfall unter all den tragischen Ereignissen. Innerhalb einer Woche wurde eine neurologische Untersuchung am Basler Kinderspital mit Frau Prof. Dr. Klein arrangiert, Spezialistin für neuromuskuläre Erkrankungen auf europäischer Ebene. Genau für die Krankheit, die dann bei Emily festgestellt wurde. Sie brauchte nur fünf Minuten mit unserer Tochter, um uns die niederschmetternde Diagnose zu stellen:
Merosin-negative Muskeldystrophie LAMA2.
MEROSIN-MANGEL-MUSKELDYSTROPHIE; auch LAMA-2 genannt
Um diese Diagnose zu bestätigen, waren jedoch spezifischere Untersuchungen erforderlich als die „einfachen“ Gentests, die zwei Jahre zuvor durchgeführt wurden. Die damaligen Screenings waren von geringerer Qualität als nun benötigt. Ein MRT (Magnetresonanztomographie) des Gehirns sowie eine Muskelbiopsie wurden organisiert.
Somit wurden bei Emily die oben genannten Tests durchgeführt, beide jeweils unter Vollnarkose.
DIE BESTÄTIGUNG
Das Ergebnis der durchgeführten diagnostischen Bewertungen bestätigten die Diagnose von Frau Prof. Dr. Klein.
Spezifische Gentests ergaben, dass wir, Mutter und Vater von Emily, gesunde Träger der Krankheit sind. Da sie autosomal rezessiv vererbt wird, lag die Wahrscheinlichkeit bei eins zu vier, dass eines unserer Kinder die Krankheit entwickeln würde.
Nach zwei Jahren voller Ungewissheit waren wir dankbar, endlich die genaue Diagnose der Krankheit unserer Tochter erhalten zu haben. Dennoch, am Boden zerstört machte sich eine neue tiefe Trauer in unseren Herzen breit, da uns die Unheilbarkeit der Krankheit bewusst wurde.
DER KAMPF
Während andere Kinder auf dem Spielplatz spielen, sich fröhlich vergnügen, sich sozialisieren, Sport treiben oder anderen Aktivitäten nachgehen, besteht Emilys Alltag hauptsächlich aus Arztbesuchen und Physiotherapien.
Sie muss sich jährlich orthopädischen Untersuchungen unterziehen, um die Muskelkontraktionen und die Skoliose, die sich unweigerlich schon jetzt anfängt sich zu entwickeln, zu überwachen. Hinzu kommen zahlreiche kardiologische, pneumologische, neurologische, augenärztliche und ernährungswissenschaftliche Untersuchungen, einschliesslich von Analysen der Schlafstörung wegen der Gefahr von einem Atemstillstand in der Nacht.
All dies kommt zu den regelmässigen, pädiatrischen Untersuchungen und den drei wöchentlichen Terminen von Ergo- und Physiotherapie hinzu. Zwei davon im Schwimmbad und eine auf der Gymnastikmatte.
DIE RESILIENZ
Kinder sollten täglich auf dem Spielplatz Spass haben beim Schaukeln, Rutschen, Verstecken spielen, rumrennen, sich im Gras wälzen, Purzelbäume schlagen, Fahrrad oder Roller fahren. Bei Regen in Pfützen hüpfen, im Winter Schneeballschlachten machen und im Sommer Sandburgen bauen.
Emily hingegen ist täglich mit Schienen an Armen, Handgelenken, Beinen und Füssen konfrontiert, muss ein Korsett und eine Halskrause tragen und muss jeden Tag auf den statischen Therapie-Stehständer stehen.
Um sich fortzubewegen, muss sie entweder mit einem Rollstuhl geschoben werden oder den Elektrorollstuhl benutzen. Sitzen, Duschen oder Toilettengang gelingen nur mit je spezifischen Hilfsmitteln. Somit ist sie Tag und Nacht auf Hilfe angewiesen.
UNSERE DANKBARKEIT
Trotz Verzweiflung und Niedergeschlagenheit gibt es aber auch kleine Genugtuungen.
Während diesem bitteren, aufreibenden und schmerzerfüllten Weg haben wir viele phantastische Menschen kennengelernt, die uns bei Emilys Förderung geholfen haben und die unsere Tochter im Laufe der Zeit liebgewonnen haben - und Emily sie.
Glücklicherweise hat unsere Tochter keine kognitiven Probleme; im Gegenteil, man hat ihr einen überdurchschnittlichen Intellekt anerkannt.
Sie wurde in die integrative Spielgruppe „La Girandola“ vom Wohnort Losone aufgenommen und konnte sich problemlos einpassen. Später wurde sie auch in den Kindergarten von Losone eingeschult. Mit Hilfe von Paola, einer pädagogischen Integrationshelferin wird ermöglicht dass Emily am normalen Kindergarten-Alltag teilnehmen kann, denn Paola hilft Ihr, jene Schwierigkeiten zu überwinden, die ihre muskuläre Krankheit mit sich bringen.
DIE HOFFNUNG
Nichts im Leben bereitet dich auf die Krankheit deines Kindes vor.
Es gibt viele Momente von Müdigkeit, Entmutigung, Verzweiflung und tiefer Traurigkeit, begossen mit unzähligen Tränen. Vor allem, wenn Emily Aussagen macht wie „Ich werde nie laufen können“ oder „Ich bin behindert“ oder „Ich werde das nie machen können“. Jedes Mal gefriert uns das Blut in den Adern und wir können unsere Tränen vor ihr nur mit viel Mühe unterdrücken.
Dennoch, sie fühlt sich von Eltern, Bruder, Grosseltern, Tanten, Onkeln, Kindergarten Freunden, Ärzten und Therapeuten geschätzt und geliebt. Wenn wir Emily fragen ob sie glücklich sei, so schenkt sie uns ihr unverwechselbares, bezauberndes Lächeln und antwortet mit JA. Dies gibt uns jeden Tag wieder neue Kraft.
Wir hoffen, dass wir Emily dank der Forschung eines Tages ihren Traum erfüllen können. Den Traum vom GEHEN, den Traum der Unabhängigkeit, damit sie selbständig den Menschen die sie lieben und unterstützen, entgegenrennen und sie umarmen kann.
Mamma, Ethan, Emily, Papà